Mit Günter Grass auf Odenwald-Tour
von W. Christian Schmitt
Der Journalist Georg Stefan Troller (Jg. 1921) hat sie zwar nicht erfunden – die Erinnerungs-Kolumne, die er bis heute allmonatlich für die „Literarische Welt“ schreibt. Aber er ist für mich Vorbild für das, was an dieser Stelle – und als Nachfolge-Kolumne zu den 18 „Tischgesprächen“ – nun unter dem Titel „Unvergessen“ zu lesen sein wird. Es ist der schriftlich festgehaltene Blick zurück auf Begegnungen mit Menschen aus dem Literatur- und Kultur-Geschehen der vergangenen 50 Jahre.
Als ich Günter Grass (1927-2015) traf, hatte er gerade den Roman „Ein weites Feld“ beim Steidl-Verlag veröffentlicht – und Marcel Reich-Ranicki das Buch werbewirksam (für MRR) auf dem „Spiegel“- Titel zerrissen. Doch am besten, ich fange ganz von vorne an, diese Geschichte zu erzählen. In Göttingen wurde 1969 ein kleiner Verlag gegründet, der zunächst sich auf das Verlegen von Plakaten und Postern spezialisiert hatte. Und über diesen (damals noch) kleinen Verlag mit Namen Steidl schrieb ich seinerzeit fürs Frankfurter Börsenblatt einen Artikel, der dem jungen Verleger offenbar so sehr gefiel, dass er mir bekundete, ich hätte bei ihm „noch etwas gut“.
Jahre später, als Grass schon zur Steidl-Autorenriege zählte, kam ich darauf zurück und fragte beim Steidl-Verleger an, ob er seinen Neuzugang einmal wg. eines Interview-Termins fragen könne, vielleicht sogar wegen einer Autorenlesung. Das sei sicher möglich, schrieb mir der Verleger, allerdings mit dem Hinweis: „wenn Grass wieder einmal zur Buchmesse anreist“ und ich ihn von seinem Hotel abholen würde. Doch dann hörte ich lange Zeit nichts mehr aus Göttingen.
Mittlerweile hatte ich meine Redaktionsstube von Darmstadt nach Reichelsheim im Odenwald verlegt. Doch eines Tages im Jahre 1995 meldete sich der Steidl-Verleger höchstselbst: Grass sei bereit für ein Interview, teilte er mir mit, und auch eine kleine Autorenlesung sei möglich. Ich müsse Grass nur vom Hotel abholen und ihn anschließend nach der Leung zur Buchmesse bringen.
Damit begann eine (für mich) nahezu unglaubliche Geschichte: Grass war also offensichtlich nicht nur bereit für ein Interview, er war auch einverstanden mit einer (kurzen) Lesung, die ich arrangieren könne. Als ich ihn und seine Frau Ute am Hotel abholte und wir in meinem Auto saßen auf dem Weg nach Reichelsheim, merkte ich, wie Grass sichtlich unruhiger wurde. Denn die paar Kilometer vom Hotel zum Veranstaltungsort wurden lang und länger. Der Grund? Wir waren auf dem Weg nach Reichelsheim im Odenwald und nicht nach Reichelsheim in der Wetterau, das tatsächlich nur wenige Kilometer vom Hotel, in dem Grass einquartiert war, entfernt lag.
Als wir in Reichelsheim im Odenwald schließlich gegen 13.00 Uhr ankamen (zu einer Zeit, da Bürger normalerweise am Mittagstisch sitzen und nicht zu einer Autorenlesung eilen), war die Überraschung allseits groß, denn es hatte sich herumgesprochen, dass Günter Grass mitten in der Provinz zu einer Lesung komme. Der kleine Sitzungssaal der Gemeinde war proppenvoll. Bürger, Kommunalpolitiken, Bürgermeister aus den Nachbargemeinden und selbst Landrat Horst Schnur wollten dieses wohl einmalige Ereignis nicht versäumen – und Grass las aus seinem bundesweit diskutierten Roman „Ein weites Feld“ (der bereits acht Wochen nach Erscheinen in fünfter Auflage für Gesprächsstoff sorgte) und signierte sein jüngstes Werk eifrig.
Mit Grass war damit die von mir initiierte und moderierte sowie von der Sparkasse Odenwaldkreis unterstützte Veranstaltungsreihe „Zu Gast in Reichelsheim“ eröffnet, in der über zwei Jahre verteilt Autoren lasen wie u.a. Erich Loest, Ingrid Noll, Gabriele Wohmann, Gert Heidenreich, Susannne Mischke und Gaby Hauptmann.
In der nächsten Ausgabe geht es um „Einmal Pizza-Essen mit Gabriele Wohmann“.
Titelbild: Günter Grass und der Journalist W. Christian Schmitt.